HANNA RÖCKLE

Den entscheidenden Anstoß zur Neuorientierung des Werks gab die Einladung zu einem Künstlerprojekt 1998 in der Klinik, Zürich. Im Garten dieses Anwesens stöberte Hanna Roeckle einen vergessenen und von der Natur längst überwachsenen ehemaligen Zierteich auf, der eine annähernde Kreisform hatte. Sie entrümpelte und säuberte ihn und stellte dabei fest, dass er in der ursprünglichen Form inklusive Abfluss intakt war. Besonders interessant war ein außerhalb der Symmetrien eingesetzter Stein, der offenbar als Froschstein oder ähnliches gedient hatte. Roeckle füllte den Teich wieder mit Wasser, färbte dieses mit Pigmenten ein, brachte eine Unterwasser-Lichtquelle an und belegte die Oberfläche mit einer transparenten Plastikfolie (Abb. S. 170). Es ergab sich eine faszinierend ambivalente Situation im Zwischenbereich von Natur und Kunst, Malerei, Skulptur und Raum. Die durch die Plastikfolie erzeugte matte Oberfläche und die durch die Färbung reduzierte Transparenz erzeugten genau jene Effekte, denen Roeckle auf der Spur war. Durch den Lichtwechsel zwischen Tag und Nacht ergaben sich zusätzlich Wirkungsebenen, die die Künstlerin in intensiven Versuchen untersuchte. Unmittelbare Folge dieser Erfahrung ist die Werkgruppe der Fluktuationen und Okulare.1 Dabei handelt es sich um innen abgedichtete weiße Kästen, die mit eingefärbtem Wasser gefüllt sind, in die schließlich verschiedene Dragée ähnliche Objekte aus Acrylharz gelegt wurden. Deren höchster Punkt befindet sich knapp unter, bisweilen auch knapp über der Oberfläche (Abb. S. 164/165). Diese Schaubilder, auf dem Boden liegend, sind der entscheidende Schritt Roeckles zu einer neuen künstlerischen Strategie, die aus einem inhaltlichen Klärungsprozess im Hinblick auf ihr früheres OEuvre resultiert. Zugleich weisen sie den Weg zu einer ästhetischen Sprache, die Roeckles inhaltliche Anliegen in zeitgemäßen Techniken und Materialien zur Anschauung bringen kann. Thematisches Zentrum wird nun der Raum, in dem sich verschiedene inhaltliche Koordinaten kreuzen. Diese befinden sich zwischen den Polen der Innerlichkeit und der Serialität, zwischen emotionaler und struktureller Dimension. Diese verschiedenen Koordinaten umkreisen das Thema eines Lebensgefühls, das zwischen zwei Existenzwünschen schwankt: dem Wunsch nach dem Eigenen, nach Individualität einerseits und dem Wunsch nach dem Eingebundensein in Systeme, nach der Aufnahme in überpersonale Ganzheiten. Um diese Aspekte auch sinnfällig zur Anschauung zu bringen, bedurfte es noch einer ganzen Reihe von Entwicklungsschritten, die an erster Stelle einen weiteren Widerspruch aufzulösen hatten, nämlich jenen zwischen dem Bild und dem Objekt im Raum. In dem Teichexperiment war Roeckle eine Verknüpfung beider Aspekte gelungen. Dies galt es nun in die Konzipierung des einzelnen Kunstwerkes zu übertragen. Deshalb entstanden zunächst Arrangements von verschiedenen kleinen Fluktuationen, die zum Teil ganze Räume besetzten. Hanna Roeckle ist mit den neuen Werken eine hochinteressante Arbeit im Zwischenbereich von Malerei und Plastik gelungen. Gerade die Art und Weise, mit der sie das Zustandekommen ihrer Bilder organisiert, zeigt einen hohen Grad an Reflexion der Möglichkeiten von Malerei heute. Dass sie dabei die Malerei in den Raum integriert, zeugt von einem sehr zeitgemäßen Raumbegriff, der durch die elektronischen Medien seit einiger Zeit im Wandel begriffen ist und den Michel de Certeau 1980 beispielhaft formuliert hat: »Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.

Text: Friedemann Malsch (Quelle: hannaroeckle.com/publications)