Sicherlich ist das Schwarze Quadrat von Malewitsch das berühmteste Quadrat der Kunstgeschichte. Eine Ikone. Von der Schöpfungsgeschichte ausgehend, soll diese geometrische Form in Schwarz das Nichts visualisieren.

 

Aber das Quadrat an sich hat noch weit mehr in petto, als konvex und regelmäßiges Viereck zu sein. Bildet es doch eine Ansicht des Würfels, der jederzeit sowohl gleichmäßig wie gleichschenklig ist. Und damit bietet es unendlich Raum für Variationen in alle Richtungen.

 

Dieses offene Spiel mit festen Regeln, nicht nur in Quadraten, liebt der Städelschüler Ralph Kerstner, den es, von der Bildhauerei gar nicht so weit, zum geformten, ferner in die Räumlichkeit gezwungenen Papiere getrieben hat. Seine Art Skulptur bändigt er nun mit Presse und Skalpell in den Werkstoff Bütten, rückt den zarten Hadern zu Leibe und drückt ihm im wahrsten Sinne des Wortes seinen Stempel auf. Gerade diese Kraft jenem fragilen, jungfräulich weißen Papier anzutun, macht einen wesentlichen Inhalt Kerstner‘scher Kunst aus: Grenzen der Verletzlichkeit in Präzision und Wissen um Gesetzlichkeiten auszuloten. Dort mit Schnitt oder Druck zu stoppen, bis wohin das Material gerade noch bereit ist mitzugehen, knapp vor dem Punkt, wo die Eigenschaft der Flexibilität, kurz vor dem Bersten, nachlässt. Kerstner kreiert kluge Kunst, da er mit großem Erfahrungsschatz nicht nur um die Beschaffenheit seines Materiales weiß, sondern auch, wie er komprimiert, anordnet, formatiert und schlussendlich auch komponiert. Mit großem Forschergeist arbeitet er mit Bildern in Bildern, entnommen aus der Welt der Geometrie, in der aber immer Formen auch symbolhaft oder metaphorisch für reale, alltägliche Dinge übersetzt werden können. Nie ist die Form allein das, was sie zu sein scheint, sondern zudem auch das, was wir ihr zuordnen.


Dies überlässt der Künstler aber ganz dem Betrachter und bleibt rätselhaft als Kreator geheimnisschweigend im nebulösen Hintergrund, entflieht so der Realität und schafft eine eigene. Mir als Betrachter ist Kostbares gegeben, werde behänd in das strategische Werk gesogen, in die Denkfabrik Kerstner, die sich unter den strengen Vorgaben der Symbiose von Geometrie und Unfarbigkeit weder abmüht noch wiederholt, sondern die unendliche Variabilität der Zweisamkeit Werk und Geist zelebriert. Freude an haptischen Sehgewohnheiten, für die neben der konkret-geometrischen Norm in Erhebungen auch Öffnungen des Bildraumes in die Tiefe symptomatisch sind, ist Grundlage der großartigen Individualität dieses Oeuvres.

 

Trotz allem müssen hier zwei Künstler genannt werden: Günther Uecker und Lucio Fontana. Erster, beginnend in der frühen Zero-Zeit, hat die weiße Prägung bekannt gemacht. Zweiter öffnete noch vor der kunst- und erfindungsreichen Epoche Ueckers den Bildraum durch einen Schnitt in das weiße oder kolorierte Tuch und machte spürbar deutlich, dass Realität und Sein nicht an den Außengrenzen der Leinwand enden, dass diese vielmehr viel mehr Ebenen aufweist. Dennoch verbindet Kerstner bis auf den Werkstoff Weißbütten und das Werkzeug Messer neben der Achtung, dem Respekt und der Liebe zur Kunstgeschichte wenig mit den beiden Genannten, denn seine Arbeits- und Herangehensweise ist eine ganz eigenständige. Dabei hat, um auf den Anfang zurückzukommen, das Quadrat immer wieder große Bedeutung für den Künstler: als geometrische Form an sich, in der Reihung, in der Überlappung oder als fehlendes Eck, welches das Auge selbsttätig zu einem Quadrat ergänzt. Das Quadrat ist nicht die Regel seiner Werke, aber wohl das, was bei Dan Flavin die Leuchtstoffröhre oder Daniel Buren der Streifen ist: ein Markenzeichen, mit dem Kerstner spielt, variiert und Möglichkeiten aufzeigt. Und eben viel mehr als ein Quadrat auf weißer Flur.

 

So liebe ich es, auf die unfarbige, dem Auge wohltuend bearbeitete Fläche in ihrer Dynamik zu sehen, die nur durch Kontur, Licht, Schatten, Höhe und Tiefe existiert. Nichts zu viel. Nichts zu wenig.

 

Michael M. Marks        

(Quelle: www.ralph-kerstner.de)

[Ausstellung STRUKTUR]

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